Der kleine Weg
Das Herzstück dessen, was Therese in ihren Schriften und Gesprächen weitergeben wollte bzw. uns hinterlassen hat, ist die Botschaft vom „kleinen Weg“. Diese Botschaft ist Frucht ihres oft leidvollen Ringens auf dem geistlichen Weg und zugleich eine beglückende Entdeckung, die sie macht, und die ihr Antwort gibt auf ihre brennende und sehnsuchtsvolle Frage, wie sie trotz der Erfahrung des eigenen Unvermögens und der eigenen Grenzen eine große Heilige werden kann. Erst im letzten Abschnitt ihres Lebens (wohl im November 1894) sieht sie diesen Weg in ganzer Klarheit vor sich.
Nach André Combes basiert der „kleine Weg“ auf sechs Etappen:
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Schon bei ihrer Erstkommunion formulierte Therese ihre innere Haltung: „Ich werde niemals den Mut verlieren“. So gelingt es ihr, die vielfältigen Schwierigkeiten ihres Lebens zu meistern.
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Auf ihrem geistlichen Weg erkennt sie: „Der liebe Gott kann keine unerfüllbaren Wünsche eingeben. Ich kann mir also trotz meiner Kleinheit Hoffnung auf Heiligkeit machen.“
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Dazu ist es aber notwendig, die Voraussetzungen anzunehmen: „Größer machen kann ich mich nicht. Ich muss mich also so ertragen, wie ich bin, mit all meinen Unvollkommenheiten.“
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Da sie erfährt, dass sie den steilen Weg der Heiligkeit nicht allein gehen kann, sucht sie nach einem Mittel, um „auf einem kleinen, ganz direkten, ganz kurzen Weg in den Himmel zu kommen.“ Sie erinnert sie sich an die Aufzüge, die sie in den Hotels auf ihrer Romreise gesehen hat und die den Leuten die Mühe ersparen, die Treppe hinaufzusteigen.
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Therese entdeckt diesen Aufzug in zwei Schriftzitaten: „Wenn jemand ganz klein ist, komme er zu mir“ (nach Spr 9,4) und „Wie eine Mutter ihr Kind liebkost, so werde ich euch trösten. Ich werde euch an meiner Brust tragen und auf meinen Knien schaukeln“ (nach Jes 66,12f). „Der Aufzug, der mich bis zum Himmel emporheben soll, das sind deine Arme, o Jesus!“
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Die Konsequenz: „Ich muss klein bleiben, ja, es immer mehr werden.“ Das Kleinbleiben ist eine Voraussetzung, um diese „Sonderbehandlung“ der barmherzigen Liebe Gottes zu erlangen.
Therese beruft sich in ihren Äußerungen zum „kleinen Weg“ interessanterweise nicht auf das Jesuswort bei Mt 18,3: „Amen, ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht in das Himmelreich hineinkommen.“ Therese muss nicht umkehren und wie ein Kind werden, sondern sie erfährt sich als Kind, sie ist ein Kind. Auf die Frage, wie sie das verstehe, vor dem lieben Gott ein kleines Kind zu bleiben, antwortet sie am 6. August 1897 Mutter Agnes:
„Es besteht darin, dass man sein Nichts anerkennt, alles vom lieben Gott erwartet, so wie ein kleines Kind alles von einem Vater erwartet; dass man sich um nichts Sorgen macht, kein Vermögen erwirbt. Auch bei den Armen gibt man dem Kind, was es braucht; sobald es aber groß wird, will sein Vater es nicht mehr erhalten. Er sagt zu ihm: Jetzt musst du arbeiten, du kannst dich jetzt selbst erhalten. Weil ich das nicht hören wollte, wollte ich nicht groß werden, denn ich fühlte mich unfähig, meinen Lebensunterhalt zu verdienen, nämlich das ewige Leben im Himmel. So bin ich immer klein geblieben, und meine einzige Beschäftigung bestand darin, Blumen zu pflücken, Blumen der Liebe und des Opfers, um sie dem lieben Gott anzubieten zu seiner Freude. Klein sein heißt auch, nicht die Tugenden, die man übt, sich selbst zuschreiben, nicht sich selbst für irgendetwas fähig zu halten, sondern anzuerkennen, dass der liebe Gott diesen Schatz in die Hand seines kleinen Kindes legt, damit es ihn benutzt, wenn es ihn braucht; aber der Schatz gehört immer dem lieben Gott. Schließlich heißt es, dass man sich nie durch seine Fehler entmutigen lässt; denn Kinder fallen oft, aber sie sind zu klein, um sich sehr wehzutun.“
Der „kleine Weg“ ist für Therese ein Weg der Heiligkeit, nicht ein Weg der Mittelmäßigkeit oder der Selbstzufriedenheit. Er bedeutet mehr als nur die Heiligung des Alltags durch kleine Taten der Liebe.
Andreas Wollbold fasst in seinem Buch: Therese von Lisieux. Auf dem kleinen Weg. (Topos Taschenbücher 824. Kevelaer 2012) die Lehre vom kleinen Weg so zusammen:
Weg bedeutet in der gängigen geistlichen Sprache das Verhalten eines Gläubigen, das ihn zu Fortschritt und Vollendung führt. Klein ist dieser Weg, weil er die eigene Kleinheit, Schwachheit, Unzulänglichkeit, Grenzen, ja selbst Sünden zum Anlass nimmt, nur noch umso mehr auf Gottes Barmherzigkeit zu hoffen und von ihr Zuwendung, Kraft, Gnade und Liebe zu erhalten. So gestärkt, lässt ein Gläubiger sich von keinen Rückschlägen entmutigen. Er erhebt sich nach jeder Niederlage und Demütigung, freut sich umso mehr an der ungebrochenen Liebe Gottes und gibt sich noch mehr Mühe, es besser zu machen. Nichts also kann einen Menschen dazu bringen aufzugeben, wenn er nur an Gott und seiner Weisung festhält. Darum heißt er auch zu Recht der kleine Weg des Vertrauens und der Liebe. Denn das bedingungslose Vertrauen in die Barmherzigkeit erweckt im Menschen eine Liebe, ja lässt ihn die Liebe Gottes immer mehr in sich aufnehmen, so dass nun wirklich das Vertrauen zur Liebe führt, die Liebe aber sich in vielen kleinen Taten bewährt. So ist der kleine Weg nichts anderes als die existenzielle Übersetzung des Rufes Jesu in jeder Stunde: „Kehrt um und glaubt, denn das Reich Gottes ist nahe” (Mk 1,15). Wie ein Vermächtnis ist somit das, womit ihrem Wunsch gemäß Mutter Agnes das Manuskript C abschließen sollte, weil sie es infolge ihrer Schwäche nicht mehr selbst beenden konnte: „Sagen Sie, meine Mutter, wenn ich alle möglichen Verbrechen begangen hätte, so hätte ich doch immer noch dasselbe Vertrauen. Ich bin mir sicher, dass diese Menge von Beleidigungen wie ein Wassertropfen wäre, der in einen glühenden Ofen geworfen würde“ (CJ 11.7.7).
So ist der „kleine Weg“ der Weg echter Demut: Klein zu sein, ja klein zu bleiben ist der Ausdruck des Vertrauens, dass man ohne Gott nichts, mit ihm aber alles vermag. Ein solches Vertrauen führt aber wie von selbst zu einer immer größeren Liebe und Hingabe an Gott und das Bemühen, ihm mit den kleinen Werken der Liebe zu antworten, die einem möglich sind. Der Blick auf sich selbst scheut sich darum nicht, das Schwache, Unvollkommene, Bedrückende und selbst Bestürzende (wie etwa die äußerste Verzweiflung während der Krankheit von Monsieur Martin oder die Versuchungen in ihrer Glaubensprüfung) anzuerkennen. Denn es verhindert nicht nur nicht, Gott wohlzugefallen, sondern es zieht sogar ganz besonders seine barmherzigen Blicke auf sich. Klein ist dieser Weg also, weil er die eigene Statur angesichts Gottes recht ermisst, weil er nichts Großartiges erstrebt, sondern gerade in aller Niedrigkeit den inneren Frieden bewahren kann, und weil er Gott im Gewöhnlichen, Unscheinbaren und Kleinen dient.