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Der kleine Weg, ein Loblied auf Gottes Barmherzigkeit


„Ja, ich spüre es. Selbst wenn ich aller erdenklichen Sünden auf dem Gewissen hätte, würde ich mich mit gebrochenem Herzen reumütig in die Arme Jesu werfen, wissend, wie innig und zärtlich er den verlorenen Sohn, der heimkehrt, mit seiner Liebe umfängt. Nicht deshalb, weil der liebe Gott in seiner Fürsorge und Barmherzigkeit meine Seele vor der Todsünde bewahrt hat, wende ich mich vertrauensvoll und von Liebe erfüllt an ihn.“

Mit diesen letzten Worten des Manuskriptes C bedankt sich Therese für das von Gott an ihr geübte Werk der Barmherzigkeit. Im Laufe dieser neun Jahre auch der einfachsten Alltagsgestaltung, der angenehmen und weniger angenehmen Seiten des Gemeinschaftslebens von Schwester Therese im Karmel haben sich auf ihrem kleinen Weg der spirituellen Kindschaft in fortschreitendem Maße einerseits das Vertrauen entwickelt, andererseits mit der Bereitschaft zur Hingabe zugleich ein Gefühl von Verlassensein eingestellt. Es galt, das eigene Kleinsein, seine eigene Armut anzunehmen, sich nicht auf seine eigenen Kräfte zu stützen, sich nicht auf seine Verdienste und Tugendakte zu berufen, um die beschwerliche Treppe der Vollkommenheit hinaufzugehen. Einzig und allein ging es darum, sich in Jesu Arme zu begeben, den Aufzug der Barmherzigkeit zum Himmel zu nehmen.


Therese ist bescheiden. Dies bringt sie mit folgenden Worten zum Ausdruck: „Mir ist bewusst, dass ich ohne Ihn so tief hätte fallen können wie die heilige Magdalena. Die bedeutungsvollen an Simon gerichteten Worte unseres Herrn Jesus hallen ganz zärtlich in meiner Seele wider … Ich weiß es: „Derjenige, dem man weniger vergibt, liebt weniger.“ Ich weiß aber auch, dass mir Jesus mehr als der heiligen Magdalena vergeben hat. Durch diese Gnade schon im Voraus hat er mich daran gehindert, zu fallen.“ (…) Er will meine Liebe, weil er mir vergeben hat, nicht viel, sondern alles!“


Therese rühmt sich nicht der Tatsache, nicht gefallen zu sein. Reine Gnade sei dies, kein eigenes Verdienst. Nach ihrer Überzeugung ist diese Barmherzigkeit kein Sonderrecht. Sie kommt allen zugute. Davon legt sie ihren Mitschwestern und „Brüdern“ in der Mission Zeugnis ab. Ihre Worte sind folgende:


„Ach! Mein lieber kleiner Bruder! Seitdem mir die Gnade gewährt ist, sogar die Liebe des Herzens Jesu zu verstehen, bekenne ich offen, dass er aus meinem Herzen jede Furcht und Scheu vertrieben hat. Die Erinnerung an meine Fehler beschämt mich, drängt mich dazu, meinen Kräften zu misstrauen, die nur reine Schwäche sind. Mehr noch! Im Rückblick wird Gottes Barmherzigkeit und Liebe als wahr und wirklich erfassbar.


Wenn man seine Fehler kindlich vertrauend in die verzehrende Glut der Liebe wirft, wie sollten sie da nicht unwiederbringlich, für immer tatsächlich verzehrt werden?“ (LT 247)


Thereses Akt der Hingabe an die barmherzige Liebe vom 9. Juni 1895 ist der Orgelpunkt, der durchgehaltene Grundton dieses Lobgesanges auf die Barmherzigkeit: „Damit mein Akt der vollkommenen Liebe von lebenslänglicher Dauer sei, als solcher gelebt werde, biete ich mich, oh mein Gott, Deiner barmherzigen Liebe als Brandopfer dar. Ich bitte Dich flehentlich darum, mich ohne Unterlass zu verzehren. Lasse, so bitte ich Dich, in meiner Seele die Fluten Deiner unendlichen Zärtlichkeit überströmen, so dass ich auf diese Weise zur Märtyrerin Deiner Liebe werde. (…) Ich will, oh mein Innigst-Geliebter, mit jedem Herzschlag unendlich oft meine Hingabe erneuern, bis ich, nachdem die Schatten sich aufgelöst haben werden, Dir von Angesicht zu Angesicht ewig während meine Liebe noch einmal zum Ausdruck bringen kann.“


Therese will die mit diesem Weihegeschenk verbundenen Gnaden nicht für sich behalten: „Ach!“, sagt sie, „seit jenem glücklichen Tag kommt es mir vor, dass die Liebe mich durchdringt, mich erfüllt, mich umgibt. Ich habe den Eindruck, dass diese barmherzige Liebe in jedem Augenblick mich erneuert, meine Seele reinigt und in ihr keine Spur von Sünde zurücklässt.“ Aus diesem Grund weckt sie in ihrer Schwester die Bereitschaft, sich ihrerseits auch zu opfern, zu schenken, ebenso in ihrer Schwester Marie du Sacré-Coeur.


Während ihrer Glaubensprüfung am Ende ihres Lebens ist Therese auf dem Gipfelpunkt dieser Barmherzigkeit in Verbindung mit ihren atheistischen „Brüdern“. Für die Bekehrung dieser Menschen opfert sie ihre Leiden auf, sowohl ihre physischen, welche die Tuberkulose verursacht, als auch ihre spirituellen. Ihre Seele ist in der „Dunklen Nacht“. Die Wirklichkeit des Himmels erlebt sie jetzt als „Kampf, als Folter, als Marter“ (MsC5v). Therese fleht um das Erbarmen des Herrn für sie in ihrem Namen mit diesen Worten: „Herr, erbarme Dich unser, denn wir sind arme Sünder! Oh Herr, lass uns als Gerechtfertigte frei“ (MsC6r). Auch uns lädt die Ordensfrau dazu ein, über die Ungläubigen nicht zu urteilen. Diesen und uns selber soll das Fürbittgebet gelten, wozu der folgende schöne Kehrreim eines ihrer Lieder anregt:

„Herr, richte Dein Handeln an uns nicht nach unseren Sünden.

Herr, verurteile uns sündige Menschen nicht.

Schon hier auf Erden schenke uns Deine Barmherzigkeit!“


Catherine Luquin O.V.



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