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Eine ungewöhnlich gewöhnliche Familie - was hat die Familie Martin uns noch zu sagen?

  • Dr. Anna Beraldi
  • 5. Aug.
  • 6 Min. Lesezeit

von Dr. Anna Beraldi


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Die Martins, Vater Louis Martin (22.8.1823-29.7.1894) und Mutter Zélie Martin (23.12.1831-28.8.1877) zusammen mit ihren 5 Töchtern und insgesamt 9 Kindern, wenn wir die verstorbenen Kinder mit dazu zählen, waren eine gewöhnliche Familie. Eine Kurzbiographie könnte so lauten: Als sich Louis und Zélie auf einer Brücke in Alencon in der Normandie kennenlernten war es sofort Liebe auf den ersten Blick. Sie heirateten 3 Monate später und bekamen im Laufe ihrer Ehe insgesamt 9 Kinder, 5 Töchter überlebten. Zélie starb im Alter von nur 45 Jahren an Brustkrebs, ihr Mann Louis starb im Alter von 71 Jahren, nachdem er die letzten Jahre seines Lebens aufgrund der Folgen der erlittenen Schlaganfälle in der Psychiatrie verbracht hatte. Nach seinem Tod trat auch die letzte der 5 Töchter ins Kloster ein, die anderen Töchter waren bereits Ordensfrauen. Ende der Geschichte.


War die Familie Martin wirklich so gewöhnlich? Auf den ersten kurzen Blick schon. Und vielleicht auch auf den zweiten, denn Ihnen blieb, außer Krieg und Armut, an Leid, Kummer und Problemen nichts erspart - wie im normalen Leben:

Louis und Zélie fanden erst spät ihre Berufung zur Ehe. Für die damalige Zeit waren sie nicht mehr die Jüngsten, als sie sich das Ja-Wort gaben. Sie mussten erleben, wie 3 ihrer Kinder im Säuglingsalter und Hélène im Alter von 2 Jahren verstarben. Eine Tochter, Léonie, war ein “schwieriges Kind” und brachte die Eltern an ihre Grenzen, bis sich herausstellte, dass Léonie von einer Hausangestellten psychisch/körperlich mißbraucht und traumatisiert war. Zélie war eine tüchtige Geschäftsfrau und irgendwann bestritt sie den Unterhalt alleine, da ihr Mann seinen Beruf aufgab, um das Geschäft seiner Frau zu unterstützen. Zélie erkrankte an Krebs, Gebete und Wallfahrten brachten nicht die erhoffte Heilung, sie starb und Louis wurde alleinerziehender Vater von 5 minderjährigen Mädchen. Léonie fand lange ihren Weg ins Leben nicht. Mehrere Versuche ins Kloster einzutreten scheiterten. So pendelte sie einige Male zwischen Kloster und Vaterhaus hin und her. Thérèse, die jüngste Tochter, hatte im Laufe ihrer Kindheit mehrere Trennungen erlebt, heute würden wir von Bindungstraumata sprechen, und wurde dadurch empfindsam und leicht kränkbar. Phasenweise erkrankte sie schwer. Sie litt an psychosomatischen Symptomen und an Skrupel, heute würden wir Zwangsgedanken sagen. Wer unter Zwangshandlungen oder Zwangsgedanken leidet, weiß wie belastend und einschränkend die damit einhergehenden Beschwerden sind. Der Vater erkrankte an Arteriosklerose, erlitt 2 Schlaganfälle und zeigte Verwirrungszustände und kognitiven Abbau im Sinne einer vaskulären Demenz, so dass er über mehrere Jahre bis kurz vor seinem Tod in einer psychiatrischen Klinik behandelt werden musste. Ende der Geschichte.


Kommt uns das eine oder andere nicht bekannt vor? Wahrscheinlich nicht genauso, aber irgendwie ist auch unser Leben von Höhen und Tiefen, von Freud und Schmerz, von Glück und Leid gekennzeichnet. Was hat uns dann die Familie Martins noch zu sagen? Schließlich hatten sie auch kein besseres Leben……


Der Unterschied liegt im Detail, verborgen, im Stillen. Von außen betrachtet - eine Familie wie wir. Wenn wir ihr Leben aus ihrer Herzenshaltung kennenlernen, dann merken wir, wie ungewöhnlich diese Familie war. Aber nicht so ungewöhnlich, dass sie mit uns nichts zu tun haben könnte. Wenn wir es wollen, kann unser Herz genauso schlagen. Dich wie schlug denn das Herz von Louis, Zélie und insbesondere der kleinen Thérèse (wir haben keinen Grund zu glauben, dass die Herzen ihrer Schwestern, Louise, Pauline, Léonie und Céline anders schlugen, doch wir beschränken uns einfachheitshalber auf die Eltern und Thérèse als jüngstes Kind)?


Die eigene Berufung finden

Als Louis und Zélie 1858 heirateten, waren Zélie 27 und Louis 36 Jahre alt. Für damalige Zeiten lagen sie über das durchschnittliche Heiratsalter. Das war dem Umstand geschuldet, dass beide in ihrem Herzen den Wunsch nach einem Gott geweihten Lebens trugen. Doch aus versch. Grünen wurde ihre Aufnahme in ein Kloster abgelehnt. In Gottvertrauen nahmen sie diese Absage an und blieben mit inneren Frieden für den Plan Gottes für ihr Leben offen. Der Wunsch nach einem Gott geweihten Leben war so innig, dass sie zu Beginn ihrer Ehe enthaltsam lebten, bis ein Priester Ihnen ans Herz legte, sich für das Leben zu öffnen und zu vertrauen, dass dies der Wille Gottes sei. Sie nahmen die Berufung zur Ehe in Demut an und wurden mit Herz und Seele Eltern von 9 Kindern. Zélie schrieb in einem Brief “Ich wollte viele Kinder haben, um sie für den Himmel zu erziehen”.


Umgang mit Tod

Louis und Zélie mussten den frühzeitigen Tod von 4 ihrer 9 Kinder erleben. Zu damaligen Zeiten keine Seltenheit. Woraus schöpfte Zélie die Kraft mit dem Tod ihrer eigenen Kinder umzugehen? Wir können es aus folgenden Zeilen an ihre Schwägerin, die ebenfalls um ein verstorbenes Kind trauerte, erahnen: „Ich bin untröstlich, mein Herz blutet, wie damals, als ich meine eigenen Kinder verlor, und doch hat Ihnen Gott eine große Gnade gewährt, weil Ihres noch die Taufe empfangen konnte. Jeder Verlust eines Kindes ist wie ein neuer Anfang. Als meine lieben Kinder für immer die Augen schlossen, habe ich unsäglichen Schmerz empfunden. Und doch bereue ich nichts von dem Schmerz, den ich für sie ertragen habe. Wie oft hat man mir gesagt: ‚Wenn Du sie nur nie bekommen hättest‘. So etwas will ich gar nicht hören! Denn mein Schmerz und mein Leid sind nichts im Vergleich zur ewigen Glückseligkeit meiner Kinder.“


Rollentausch

Das Ehepaar Martin war ihrer Zeit weit voraus. Sie war eine tüchtige und erfolgreiche Geschäftsfrau im Bereich der Klöpperei (Herstellung der Alenconspitzen). Louis Martin, der ein betuchter Uhrenmacher war, entschied sich, sein Geschäft aufzugeben, um seine Frau, die sich vor Arbeit nicht mehr retten konnte, zu unterstützen. Aus Liebe zu seiner Frau und zu seiner Familie verzichtete er nicht nur auf das war er gerne machte und gut konnte (sozusagen auf Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung), sondern auch auf seine Rolle des Ernährers seiner Familie. Für damalige Zeiten kein Selbstverständnis, doch aus Liebe war es für Louis selbstverständlich. Kein Rollenkampf oder Geschlechterkampf, sondern Ergänzung und Unterstützung aus Liebe.


Nächstenliebe

Die Liebe, die Louis und Zélie im Herzen trugen, beschränkte sich nicht nur auf ihre eheliche Beziehung und auf ihre Kinder, sondern zeigte sich auch ihren Angestellten und bedürftigen Menschen. So war es für das Ehepaar Martin ganz normal, sich um die Angestellten zu kümmern, wenn diese z.B. krank wurden, oder bedürftige Menschen mit Essen und Kleidung zu versorgen. Ihre Liebe zu Gott nahm Gestalt an in ihrer Liebe zueinander und in ihrer Fürsorge für ihre Mitmenschen, insbesondere, wenn diese Not litten.


Umgang mit Krankheit

Zélie starb mit Mitte vierzig an den Folgen einer Brustkrebserkrankung. Ihrem Tod ging ein leid- und schmerzvoller Krankheitsverlauf voraus. Ihre Hoffnung auf Gott als Arzt und Heiler, gab sie auch dann nicht auf, als die Pilgerfahrt nach Lourdes nicht die erhoffte Heilung brachte. All ihre Schmerzen opferte sie für ihre Töchter auf, insbesondere für Léonie, die als “schwieriges Kind” galt. Die Gebete der Mutter wurden erhöht, denn auch Léonie fand ihren Weg mit Gott und ihr Leben nahm eine gute Wendung. Welch ein Vorbild für den übernatürlichen Sinn von Schmerz und Krankheit, wenn diese in Demut und Gottvertrauen angenommen und mit Jesus gelebt werden. Sicherlich kein einfacher Weg, doch eine Entscheidung, die übernatürlich immer fruchtbar wird, auch wenn wir es meistens nicht sehen und greifen können.


Auch Louis kämpfte in den letzten Lebensjahren mit einer unheilbaren Krankheit. Er litt an einer neurologischen Erkrankung, die zu Verwirrung und Demenz führte. Er nahm die Scham und Erniedrigung auf sich, seine letzten Jahre in der Psychiatrie zu verbringen. Wenn heute noch eine psychiatrische Erkrankung häufig als stigmatisierend und schambehaftet erlebt wird, umso mehr wurde es damals als das schlimmste, was einem passieren konnte, wahrgenommen. Umso mehr, wenn der Betroffene aus gutem Hause kam. Welch ein Vorbild in Louis Martin, dass auch ein gläubiger und praktizierender Christ psychisch erkranken kann und dies nicht als eine Folge von mangelndem Glauben an Gott oder zu wenig Gebet zu sehen ist. Welch ein Vorbild in Louis Martin mit welcher Würde er den Willen Gottes getragen hat.


Psychisches Leiden der kleinen Thérèse

In Folge von mehreren Trennungs- und Verlusterlebnissen, die die kleine Thérèse seit jüngster Kindheit erfahren musste, hatte sich ihre Persönlichkeit entsprechend empfindsam und leicht kränkbar entwickelt. Eine weitere Trennung löste dann schließlich körperliche und psychische Symptome aus, die kein Arzt damals einordnen konnte. Thérèse wurde schwer krank. Später wurde sie auch von Skrupel (Zwangsgedanken) geplagt. Wie bei ihrem Vater, mutet Gott auch reinen und gläubigen Seelen psychisches Leid zu. Im Falle des Vaters bedurfte die Krankheit die Behandlung der Ärzte. Bei Thérèse war es anders, denn Gott heilte die kleine Thérèse, indem sie erfahren durfte, dass sie eine sie liebende Mutter im Himmel hat. Dies veränderte alles. Thérèse wurde umgehend gesund und ihrer Liebe zur Mutter Gottes vom Berge Karmel stand nichts mehr im Weg. Sich geliebt zu wissen von Gott Vater und der Mutter Jesu, die auch unsere Mutter ist, verändert alles. Glauben wir daran? Leben wir entsprechend?


Kurz: Das Herz der Familie Martin schlug auf Gott hin. So wie die Uhren, die Louis Martin als Uhrenmacher herstellte, im regelmäßigen Rhythmus tickten, so schlug das Herz der Familie Martin ununterbrochen für und auf Gott hin. So konnte kein Leid, kein Schmerz, keine Widrigkeit,sie aus dem Frieden (Rhythmus) und aus der Beziehung zu Gott bringen. So konnten sie alles im Einklang mit dem Willen Gottes leben. Denn sie wusste sich in der Liebe Gottes getragen und so konnte sie alles was passierte nutzbar machen für ein höheres Gut - für das Heil der Seele - ihr eigenes und das der anderen. Das ist christliches Leben. Und dazu sind wir alle gerufen. Es zumindest nach besten Kräften zu versuchen. Das hat die Familie Martin uns heute noch zu sagen! Ende der Geschichte.



 
 
 

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