In einem sehr lesenswerten Brief an Schwester Marie du Sacré Coeur schildert Therese ein eigenartiges Ringen. Sie spürt in sich eine ganze Reihe von Berufungen. Die kleine Heilige möchte Priester, Apostel und Kirchenlehrer werden. Es zieht sie in die Missionen, ja selbst zum Martyrium. Man hat den Eindruck, eine kindliche Sehnsucht geht mit ihr durch, für Jesus alles zu vollbringen. Mich erinnert dieser Brief an die Szene, als ihre Schwester ihr einen Korb mit einer reichen Auswahl hinhält und sie ausruft: „Ich wähle alles!” In dem genannten Brief gesteht sie dem Herrn ihre Torheit, da sie spürt, wie unvereinbar eigentlich ihre Wünsche nach so verschiedenartigen Berufungen sind. Therese berichtet, wie sie mitten in diesem inneren Ringen die Heilige Schrift aufschlug und auf das 12. Kapitel des 1. Korintherbriefes stieß. Der Gedanke des heiligen Paulus leuchtet ihr ein, es können nicht alle zugleich Apostel, Propheten, Lehrer usw. sein, was er am Bild vom Körper und den vielen verschiedenen Gliedern klarmacht. Die Antwort stillt aber noch nicht die entbrannte Sehnsucht. Erst als sie im 13. Kapitel das Hohelied der Liebe liest, kommt sie zur Ruhe.
„Endlich hatte ich Ruhe gefunden. Den mystischen Leib der Kirche betrachtend, hatte ich mich in keinem der vom heiligen Paulus geschilderten Glieder wiedererkannt. Oder vielmehr, ich wollte mich in allen Gliedern erkennen; die Liebe gab mir den Schlüssel meiner Berufung.“ Therese hatte etwas entdeckt, nämlich ihren Ort, ihre Gnadengabe. Sie kann sich mit keiner der einzelnen Berufungen, der einzelnen Gnadengaben, der einzelnen Glieder in eins setzen. Das ist ihr jeweils zu wenig, das haben wir vorhin gelesen, aber sie spürt, dass es für alle diese Gnadengaben eine Schlüsselrolle gibt; und diese Schlüsselrolle zeigt Paulus in der Liebe. Und nun bricht es in ihr durch, die Liebe, das ist meine Berufung. Hören wir sie selber, weil sie selber das doch am besten sagen kann: „Ich begriff, dass, wenn die Kirche einen aus verschiedenen Gliedern bestehenden Leib hat, ihr auch das Notwendigste, das Edelste von allem nicht fehlt. Ich begriff, dass die Kirche ein Herz hat und dass dieses Herz von Liebe brennt.” Damit schreibt sie eigentlich den Korintherbrief weiter. Diese Konsequenz hat Paulus selber so nicht gezogen. Sie schreibt vom Herzen, das in Liebe brennt inmitten dieses Leibes der Kirche. Und weiter sagt sie: „Ich erkannte, dass die Liebe allein die Glieder der Kirche in Tätigkeit setzt, und würde die Liebe erlöschen, so würden die Apostel das Evangelium nicht mehr verkünden, die Märtyrer sich weigern, ihr Blut zu vergießen. Ich begriff, dass die Liebe alle Berufungen in sich schließt, dass die Liebe alles ist, dass sie alle Zeiten und Orte umspannt, mit einem Wort, dass sie ewig ist.“ Und weiter schreibt sie: „Da rief ich im Übermaß meiner überschäumenden Freude: o Jesus, meine Liebe, endlich habe ich meine Berufung gefunden, meine Berufung ist die Liebe.” Und von dieser Berufung her versteht sie nun ihren ursprünglichen Beruf, Karmelitin zu sein. Gleichzeitig entdeckt sie ihren Ort in der Kirche. Sie entdeckt die große „offene Stelle”, und dort stellt sie sich hin.
Auch wir finden uns wohl nicht in den einzelnen Gliedern wieder. Wir sind keine Märtyrer, keine Missionare, Kirchenlehrer, Sie nicht und ich nicht. Diese. vielen großen Berufungen, die Therese als ihre Sehnsucht aufzählte, sie sind auch nicht unsere Funktionen, unsere Berufungen. Dürfen wir vielleicht einen ähnlichen Weg mit Therese gehen und auf diese offene Stelle zugehen, auf die offene Stelle unter all den Berufungen der Kirche, wo es um die Liebe geht, wo es um die Liebe geht für all die geistlichen Berufungen der Kirche? Ich meine ja. Die Berufung zur Liebe müsste in der Kirche von vielen gelebt werden. Therese wollte so etwas anstoßen in der Kirche. Deshalb hat sie ihren kleinen Weg zur Heiligkeit niedergeschrieben, damit viele diese Berufung zur Liebe verwirklichen, aus der die anderen Berufungen in der Kirche eigentlich erst leben können.
Als ich diesen Brief der kleinen Therese las, musste ich an viele Menschen denken, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, tagtäglich für geistliche Berufe zu beten. Wer immer sich das Anliegen der geistlichen Berufe zu eigen macht durch Opfer und Gebet, beginnt diese offene Stelle einzunehmen und beginnt seine „Berufung zur Liebe“ zu leben. Ohne Liebe wird keine geistliche Berufung wachsen und sich bewähren. Gerade diese Liebe will erbetet sein. So brauchen junge Menschen unser Gebet, die sich auf den Weg machen, ihre Berufung zu ergreifen. Ebenso brauchen Priester, Diakone und Ordensleute unser Gebet, dass die Liebe als Grundlage ihrer Berufung nicht schwindet.
Diese zweite Seite des Gebetes für geistliche Berufe ist Therese bei ihrer Romfahrt aufgegangen. Sie schreibt darüber: „Die zweite Erfahrung, die ich machte, betrifft die Priester. Da ich ihnen in meinem Leben nie nähergekommen war, konnte ich den Hauptzweck der Reform des Karmels nicht verstehen. Für die Sünder beten, das begeisterte mich, aber für die Priester beten, von denen ich meinte, sie seien reiner als Kristall, das fand ich erstaunlich. Ach, in Italien habe ich meine Berufung verstanden. Eine so nützliche Einsicht war die weite Reise wert. Während eines Monats lebte ich mit vielen heiligmäßigen Priestern zusammen und sah, wenn ihre hohe Würde sie auch über die Engel erhebt, dass sie dennoch schwache und gebrechliche Menschen bleiben. Wenn nun heiligmäßige Priester, die nun Jesus das Salz der Erde nennt, in ihrem Verhalten zeigen, dass sie der Fürbitte dringend bedürfen, was soll man da erst von den Laien sagen? Ist es nicht auch gesagt, wenn aber das Salz schal wird, womit soll man es wieder würzen? Oh, meine Mutter, wie schön ist doch die Berufung, die zum Ziel hat, das für die Seelen bestimmte Salz zu bewahren. Das ist ja die Berufung des Karmel, denn unsere Gebete und Opfer haben zum einzigen Ziel, Apostel der Apostel zu sein, für sie zu beten, während sie durch ihr Wort und vor allem ihr Beispiel die Seelen für das Evangelium: gewinnen. Ich muss innehalten, denn wenn ich fortführe, über diesen Gegenstand zu reden, fände ich kein Ende.” Man spürt, wie stark Therese erfüllt ist von dieser ihrer Berufung. Therese könnte uns erneut aufschließen für dieses große Anliegen des Gebetes für geistliche Berufe.
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