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Engel der Familie


„Ich muss Euch von einem Ereignis berichten, das wahrscheinlich gegen Ende des Jahres eintritt, aber im Augenblick interessiert das kaum jemanden außer mir, noch freut sich jemand darüber. Ich würde mich allerdings darüber freuen, wenn ich dieses arme Wesen, das sich unserer Familie zugesellt, selbst stillen könnte. Auf keinen Fall wird es weggegeben, so lange wir beide am Leben sind. Es geht mir besser als beim letzten Mal. Ich habe guten Appetit und nie Fieber. Ich hoffe, dass dieses Kind gut ankommt. Das Unglück kommt nicht immer durch dieselbe Tür. Dennoch: Der Wille des lieben Gottes möge geschehen!“


Das schrieb Frau Zélie Martin, geborene Guérin, die Mutter der heiligen Therese, am 21. Juli 1872 aus Alençon an ihre Verwandte nach Lisieux. Und am 15. Dezember des gleichen Jahres schrieb sie: „Ich warte nun von Tag zu Tag auf meinen kleinen Engel, bin aber in großer Verlegenheit, weil ich noch keine Amme gefunden habe. Ich habe zwar schon mehrere getroffen, aber sie sagten mir nicht sonderlich zu. Auch mein Mann konnte sich nicht entschließen, eine von ihnen zu nehmen. Es geht nicht ums Entgelt, aber wir fürchten, unordentliche Leute in unser Haus aufzunehmen. So sind heutzutage ja generell die Ammen… Zu der Möglichkeit, eine zweite Hausangestellte einzustellen, die mir Scherereien bereiten und mein Kind nicht so versorgen würde, wie ich es möchte, will ich lieber nichts sagen. Wenn mir der liebe Gott die Gnade schenken würde, es selbst zu stillen, wäre es mir natürlich am liebsten, wenn ich es auch noch selbst großziehen könnte. Ich habe Kinder unheimlich gern; ich wurde geboren, um Kinder zu bekommen. Aber es wird bald Zeit, dass das aufhört. Am 23. dieses Monats werde ich einundvierzig Jahre alt. In diesem Alter wird man normalerweise schon Großmutter.“


Am 2. Januar 1873, einem Donnerstag, um 23.30 Uhr, wurde der Familie Martin jene geboren, die als Therese vom Kinde Jesus der Liebling der ganzen Welt wurde. Auch diesmal verrichtete Frau Martin unmittelbar nach der Geburt des Kindes das von ihr selbst verfasste Gebet: „Herr, verleihe mir die Gnade, dass dieses Kind dir ganz und gar geweiht sei und niemals etwas die Reinheit seiner Seele trübe. Falls es dir etwa verloren gehen sollte, so wäre es mir lieber, du nähmest es sogleich zu dir.“ Mitten in der Nacht weckte Vater Martin seine beiden Töchter Marie und Pauline, die in den Weihnachtsferien zuhause weilten, um ihnen die frohe Kunde der Geburt eines Schwesterchens mitzuteilen. Kaum war die Geburt des neunten Kindes in der Stadt bekannt geworden, da erschien ein Junge im Haus Martin mit einem Brief. Dieser enthielt ein Gedicht:


„Lächle, zartes Kind und blühe auf! Glücklich sei dein ganzer Lebenslauf! Elternliebe will dich treu umsorgen, lächelnd grüße du den neuen Morgen. Heute bist du eine Knospe klein, morgen wirst du eine Rose sein.“


Diese Worte waren eine besondere Aufmerksamkeit jenes Mannes, dessen sich Herr Martin einstens angenommen hatte, als er als Fremder mit Frau und Kind völlig mittellos in Alençon dastand. Herr Martin half der Familie nicht nur persönlich, sondern rastete und ruhte nicht, bis der Mann einen seinen Fähigkeiten entsprechenden gut bezahlten Posten in Alençon erhalten hatte.

Die Taufe des Kindes fand am 4. Januar in der Kathedrale U. L. Frau zu Alençon statt. Patin war Maria, die älteste Schwester des Kindes. In der Taufe erhielt es den Namen Maria Franziska Therese. Begeistert schreibt die Mutter am 16. Januar 1873 an ihre Verwandte in Lisieux:

„Dieses Kind heißt Therese wie schon meine Kleine vorher. Alle Leute sagen, sie werde schön; sie lacht bereits. Ich bemerkte es zum ersten Mal am Dienstag. Ich glaubte, mich zu täuschen, aber gestern gab es keinen Zweifel mehr. Sie schaute mich aufmerksam an, und dann schenkte sie mir ein wunderbares Lächeln. Schon während ich mit ihr schwanger war, bemerkte ich etwas, was mir bei meinen anderen Kindern noch nie aufgefallen ist: Wenn ich sang, sang sie mit mir… Ich vertraue es Dir an, niemand sonst würde es mir glauben.“


Frau Martin wollte mit aller Gewalt ihr Töchterchen selbst stillen, musste aber rasch feststellen, dass sie dazu einfach nicht in der Lage war. Bereits am 17. Januar heißt es in einem Brief nach Lisieux: „Mein kleine Therese macht mir sehr große Sorgen. Ich fürchte, dass sie an einer Darmkrankheit leidet. Ich beobachte die gleichen beunruhigenden Symptome wie bei meinen anderen Kindern, die gestorben sind. Muss ich denn auch dieses noch verlieren? Sag mir, was ich ihr geben soll! Ob Brotwasser mit Milch, beides zu gleichen Teilen, das richtige ist? Seit heute Morgen halb vier schläft sie nur noch. Wir lassen sie im Schlafen trinken, aber sie hat fast nichts zu sich genommen. Ich weiß nicht, ob die Schwäche für diesen Schlaf verantwortlich ist… Ich habe auf jeden Fall schreckliche Angst. Ich schlafe kaum mehr als zwei Stunden, weil ich mich ständig in der Nähe der Kleinen aufhalte, die seit einiger Zeit auch während der Nacht über mehrere Stunden sehr unruhig ist.“


Der Zustand des Kindes verschlimmerte sich weiter, Mutter Martin flehte ihre Schwester im Kloster der Heimsuchung um besondere Gebetshilfe für ihr jüngstes Kind an. Nach einiger Zeit besserte sich der Zustand, aber bereits am 1. März 1873 schreibt Frau Martin ihrem Bruder: „Oft denke ich an die Mütter, die die Freude hatten, ihre Kinder selbst zu stillen; und ich muss zuschauen, wie sie alle nacheinander sterben!“ Der Zustand des Kindes hatte sich so verschlimmert, dass man seinen Tod befürchten musste. In ihrer Not wandte sich Frau Martin an jene Amme, der sie ehemals ihre beiden so früh verstorbenen Söhne anvertraut hatte. Die vorausgegangene Nacht muss für die Mutter schrecklich gewesen sein, denn sie schrieb im März an ihre Schwägerin: „Die Nacht kam mir lang vor. Meine Kleine wollte fast nichts trinken. Die schlimmsten Anzeichen, die dem Tod meiner anderen kleinen Engel vorausgegangen waren, zeigten sich jetzt auch bei ihr, ich war ganz traurig. Ich war überzeugt, dass mein armer Liebling in diesem Schwächezustand die Brust der Amme nicht annehmen würde. Ich machte mich also, sobald es hell wurde, auf den Weg zur Amme. Sie wohnt in Semallé, fast zwei Meilen von Alençon entfernt. Mein Mann war nicht zu Hause, und ich wollte niemandem den Erfolg meines Unternehmens anvertrauen. Auf einem einsamen Weg begegneten mir zwei Männer, die mir etwas Angst einjagten, aber ich sagte mir: Wenn sie mich umbringen sollten, würde mir das nichts ausmachen. Ich trug den Tod in der Seele.“


Die Amme ging mit nach Alençon, schüttelte aber den Kopf beim Anblick des Kindes, das jede Nahrungsaufnahme verweigerte. Frau Martin schrieb im März 1873 ihrer Schwägerin: „Ich ging schnell hinauf in mein Zimmer, kniete mich vor dem heiligen Joseph nieder und bat ihn um seinen Beistand, damit die Kleine gesund wird. Ich überließ mich aber dem Willen des lieben Gottes, falls er sie zu sich nehmen wollte. Ich weine nicht oft, aber als ich so betete, flossen die Tränen. Ich wusste nicht, ob ich wieder hinuntergehen sollte…, schließlich raffte ich mich doch dazu auf. Und was sah ich? Das Kind trank an der Brust der Amme nach Herzenslust. Erst gegen ein Uhr mittags hörte es auf. Es spuckte ein paar Schlucke wieder aus und ließ sich wie tot auf die Amme fallen. Wir standen zu fünft um sie herum. Alle waren ergriffen; eine Arbeiterin weinte, ich selbst spürte, wie das Blut in meinen Adern gefror. Wir merkten nicht, dass Therese noch atmete. Vergeblich beugten wir uns über sie und versuchten, ein Lebenszeichen zu erkennen. Wir sahen nichts, aber sie war so ruhig, so friedlich, dass ich dem lieben Gott dankte, der sie so sanft hatte entschlafen lassen. So ging es eine Viertelstunde lang. Plötzlich öffnete meine kleine Therese die Augen und begann zu lächeln. Von jenem Augenblick an war sie vollständig genesen. Sie sieht wieder gut aus und ist fröhlich. Seither geht alles besser. Aber meine arme Kleine ist fort. Es ist sehr traurig, wenn man ein Kind zwei Monate lang umsorgt hat und dann gezwungen ist, es fremden Händen anzuvertrauen. Es tröstet mich der Gedanke, dass der liebe Gott es so will, da ich ja tat, was ich konnte, um es selbst großzuziehen. In dieser Hinsicht habe ich mir also nichts vorzuwerfen. Ich hätte die Amme viel lieber hier im Hause behalten, ebenso mein Mann… Ich wünsche Dir von ganzem Herzen, dass Du niemals ein Kind in diesem Zustand erleben musst. Man weiß weder ein noch aus, man fürchtet, ihm nicht das Zuträgliche zu geben, der Tod ist ständig gegenwärtig. Derartiges muss man erlebt haben, um diese Qual zu kennen. Ich weiß nicht, ob das Fegefeuer schlimmer ist. Nun, eine harte Prüfung ist zu Ende.“


Das Glück währte nicht lange. Schon nach drei Wochen musste Frau Martin erfahren, dass ihr Jüngstes erneut von einer Darmkrise befallen sei. Mit dem Arzt eilte sie nach Semallé und war sehr niedergeschlagen. Am 30. März 1873 schrieb sie nach Lisieux: „Als ich gestern in Begleitung des Arztes zu meiner kleinen, sehr kranken Therese unterwegs war, sah ich ein schönes Schloss und prächtige Anwesen. Und ich sagte mir, dass all das nichts ist. Wir werden erst glücklich sein, wenn wir alle, wir und unsere Kinder, dort oben vereint sein werden. Und ich bot Gott mein Kind zum Opfer an… Nun, ich habe getan, was ich konnte, um ihr Leben zu retten; wenn jetzt der liebe Gott darüber verfügen will, werde ich versuchen, die Prüfung so geduldig wie möglich anzunehmen. Immer wieder muss ich mir neuen Mut machen; ich habe in meinem Leben schon viel leiden müssen. Ich wünschte mir, meine lieben Freunde, Ihr wäret glücklicher als ich…“


Die schwere Darmkrise konnte behoben werden. Inzwischen entwickelte sich Therese in dem ländlichen Heim der Amme zu Semallé so gut, dass die ganze Familie Martin ihre helle Freude daran hatte. Ab und zu brachte die Amme das Kind für einige Stunden nach Alençon. Sobald sie aber das Haus verließ, fing Therese zu schreien an und beruhigte sich erst wieder, wenn sie zurückkam und sich ihrer annahm. So schreibt Frau Martin am 22. Mai 1873 an ihre Tochter Pauline: „Ich habe Therese letzten Donnerstag gesehen; ihre Amme hat sie vorbeigebracht. Aber sie will nicht mehr bei uns bleiben und schreit herzzerreißend, wenn sie ihre Amme nicht mehr sieht. Daher war Louise gezwungen, sie zum Markt zu bringen, wo Rose ihre Butter verkaufte. Anders war es nicht zu machen. Sobald sie ihre Amme erblickte, strahlte sie und muckste sich nicht mehr.“


In dem Brief vom 30. November 1873 schrieb Mutter Martin an Pauline: „Am Donnerstag habe ich trotz des schlechten Wetters unsere kleine Therese besucht. Sie war lieber als das letzte Mal. Aber Louise war nicht zufrieden. Die Kleine wollte sie nämlich weder anschauen noch mit ihr gehen. Ich war in großer Verlegenheit; ständig kamen Arbeiterinnen herein, ich reichte sie mal der einen, mal der anderen. Diese wollte sie gerne sehen, sogar lieber als mich, und küsste sie immer wieder.“

In einem anderen Briefe schreibt die Mutter: „Seit Donnerstag läuft meine kleine Therese allein. Sie ist zart und lieb wie ein kleiner Engel. Sie hat einen reizenden Charakter, das sieht man schon jetzt, und ein so mildes Lächeln. Die Zeit wird mir lang, bis sie bei uns ist.“


Am 2. April 1874 hatten die Eltern die große Freude, ihre inzwischen 15 Monate alt gewordene Therese nach Hause zurücknehmen zu können. Das Kind ist der Sonnenschein des Hauses. Am 25. Juni schrieb die Mutter ihren Töchtern Maria und Pauline im Kloster der Heimsuchung zu Le Mans: „Die arme Kleine will nicht von meiner Seite, sie ist ständig in meiner Nähe. Sie geht sehr gerne in den Garten; aber wenn ich nicht dort bin, will sie auch nicht dort bleiben und weint, bis man sie zu mir bringt… Ich bin sehr froh, dass sie so sehr an mir hängt, aber manchmal ist es lästig!“


Therese war des Vaters ganzer Stolz. Wenn er von ihr redete, sprach er nur von seiner „kleinen Königin”. Schon mit 18 Monaten hatte er für sie eine kleine Schaukel im Garten errichtet, die des Kindes ganzes Entzücken war. Weniger erfreut war die Mutter darüber, denn sie schreibt ihren Töchtern am 25. Juni 1874 nach Le Mans: „Man muss gesehen haben, wie die kleine Therese schaukelt… das ist zum Lachen. Sie hält sich fest wie ein großes Mädchen; es besteht keine Gefahr, dass sie mal das Seil loslässt. Wenn es nicht hoch genug geht, schreit sie. Wir binden sie zwar vorn mit einem anderen Seil an, dennoch bin ich unruhig, wenn ich sie da oben sitzen sehe.“ Im selben. Brief berichtet Frau Martin weiter: „Neulich hatte ich mit der Kleinen ein merkwürdiges Erlebnis. Ich gehe gewöhnlich um halb sechs zur Messe. An den ersten Tagen wagte ich es nicht, sie allein zurückzulassen, aber weil ich sah, dass sie nie wach wurde, entschloss ich mich schließlich, einfach fortzugehen. Ich legte sie in mein Bett und stellte die Wiege so dicht daneben, dass sie unmöglich herausfallen konnte. Eines Tages hatte ich vergessen, die Wiege danebenzustellen. Als ich zurückkam, lag die Kleine nicht mehr in meinem Bett. Im selben Augenblick hörte ich einen Schrei, ich schaute mich um und sah sie auf einem Stuhl hinter dem Kopfende meines Bettes sitzen. Ihr Köpfchen ruhte auf dem Kopfkissen, wo sie natürlich schlecht schlief, weil es unbequem war. Ich konnte mir nicht erklären, wie sie fallen und dann auf diesem Stuhl sitzen konnte, da sie doch zuvor gelegen hatte. Ich dankte dem lieben Gott, weil ihr nichts Schlimmeres zugestoßen war. Das war wirklich Vorsehung. Sie hätte eigentlich auf den Boden fallen müssen. Ihr Schutzengel hat gewacht, und die Armen Seelen im Fegefeuer haben sie beschützt, zu denen ich jeden Tag für die Kleine bete. So erkläre ich es mir. Ihr könnt es Euch erklären, wie Ihr wollt!...


(Veröffentlicht von Arnold Amann zum 100. Geburtstag im Theresienkalender 1973)

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