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Die Tugend der Tapferkeit


Therese von Lisieux war eine sehr empfindsame junge Frau. Schon als Kind war sie sehr sensibel. Aber auch als Jugendliche und dann in den neun Jahren im Kamelkloster musste sie lernen, mit den Erfahrungen und Eindrücken aller Art, die in ihre Seele strömten, gut umzugehen. Ihre tiefe Liebe zu Jesus und ihre Bereitschaft, aus einem lebendigen Glauben heraus zu leben, zu denken und zu handeln, aber auch ihre Bereitschaft, aus Liebe zu leiden, halfen ihr, in den verschiedensten Situationen tapfer zu sein.


In den Aufzeichnungen aus ihrem Leben, der „Geschichte einer Seele“, berichtet sie, wie sie die Nächstenliebe konkret zu leben versucht.


„In der Gemeinschaft gibt es eine Schwester, die das Talent besitzt, mir in allem zu missfallen. Ihre Art, ihre Worte und ihr Charakter berührten mich sehr unangenehm. Da ich meiner natürlichen Abneigung nicht nachgeben wollte, habe ich mir gesagt, dass die Nächstenliebe schließlich nicht in Gefühlen, sondern in Werken besteht. So habe ich mir Mühe gegeben, für diese Schwester das zu tun, was ich für denjenigen getan hätte, den ich am meisten liebe. Jedes Mal, wenn ich sie traf, betete ich für sie zum lieben Gott und opferte Ihm alle ihre Tugenden und Verdienste auf. Ich wusste genau, dass dies Jesus Freude bereiten würde, denn es gibt keinen Künstler, der es nicht gerne sieht, wenn seine Werke gelobt werden. Jesus, der Künstler der Seelen, freut sich, wenn man sich nicht beim äußeren Eindruck aufhält, sondern bis zum innersten Heiligtum vordringt, das er zu seiner Bleibe erwählt hat, und dessen Schönheit bewundert. Für diese Schwester, die mir Anlass zu so vielen Kämpfen gab, nur zu beten, damit gab ich mich nicht zufrieden. Ich bemühte mich auch, ihr alle möglichen Gefälligkeiten zu erweisen. Wenn ich in Versuchung geriet, ihr eine patzige Antwort zu geben, schenkte ich ihr stattdessen nur mein liebenswürdigstes Lächeln und versuchte, das Gespräch auf andere Themen zu lenken… Sie hatte nicht die leiseste Ahnung von meinen Gefühlen ihr gegenüber und hat darum auch niemals die Beweggründe für mein Tun geahnt. Sie ist bis heute der festen Überzeugung, dass ihr Charakter mir zusagt. Eines Tages sagte sie in der Rekreation mit freudiger Miene fast wörtlich zu mir: ‚Würden Sie mir bitte sagen, Sr. Therese vom Kinde Jesus, was Sie so sehr zu mir hinzieht? Jedes Mal wenn Sie mich anschauen, sehe ich Sie lächeln.‘ - Ach, es war Jesus, verborgen auf dem Grund ihrer Seele, der mich anzog...“


Ihre zweitälteste Schwester Pauline, die so wie zwei andere leibliche Schwestern mit ihr im Karmel lebte, bezeugte im Seligsprechungspozess: „Therese schien eine besondere Vorliebe für jene Schwestern zu haben, die ihr etwas zu ertragen gaben und suchte vorzugsweise sie auf. In der Erholung suchte sie keineswegs in besonderer Weise uns drei leiblichen Schwestern auf, die wie sie Karmelitinnen waren. Sie ging unterschiedslos mit welcher Ordensfrau auch immer um; sehr oft unterhielt sie sich besonders gerne mit denen, die allein und verlassen waren.“ Therese von Lisieux lebte die Tugend der Tapferkeit in vielfältigen Leiden und Schwierigkeiten, in der Glaubensprüfung in den letzten eineinhalb Jahren ihres Lebens, vor allem aber in der konkreten Nächstenliebe mit ihren Mitschwestern.

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