Geltungsdrang und Ichbezogenheit verfolgen Therese während ihrer ganzen Kindheit. Nach außen zeigten sich diese Fehler durch übertriebene Empfindlichkeit: „Ich war weinerlich im Übermaß... Ich grämte mich wirklich über alles... Fing ich endlich an, mich über das zu trösten, was ich verkehrt gemacht hatte, so weinte ich darüber, dass ich geweint hatte... Alles Zureden war vergeblich. Ich war nicht imstande, diesen hässlichen Fehler abzulegen.“ Aber weil Therese kein Egoist sein will, fühlt sie sich getrieben, jedes Versagen wieder gut zu machen durch noch mehr Beten, noch mehr Tugendakte, noch mehr Opfer. Die Folge aber wird sein: noch mehr Niederlagen, noch mehr Tränen, noch mehr Belästigung für ihre Umgebung. Zur Überempfindlichkeit kommt mit 11 Jahren noch die Skrupelhaftigkeit hinzu: „Man muss durch dieses Martyrium gegangen sein, um es wirklich zu verstehen…” All ihr Bemühen ist umsonst. Sie kann sich selbst nicht entfliehen. Wer kann das schon? Sie kann diese „Probezeit“ auch nicht abkürzen, sie muss hindurch. Sie muss alles annehmen und erleiden, was ihre Natur ihr antut und aufgibt. Sie muss weinen und sich aufregen und sich blamieren, sie muss verwirrt und elend und untröstlich sein. Damals wurde der Grundstein zu ihrer neuen Lehre vom kleinen Weg gelegt. Fast alle alten Lehren über die Erlangung der Vollkommenheit hat sie damit umgestoßen. Aber vorher noch musste der liebe Gott ein kleines Wunder wirken. Es geschah Weihnachten 1886. In der Christmette hat sie bei der hl. Kommunion vom eucharistischen Herrn die Gabe der Stärke geschenkt bekommen. Es war ein Einströmen der göttlichen Kraft: „Therese war nicht mehr dieselbe. Jesus hatte ihr Herz verwandelt.“ Fortan wird sie sich ganz auf diesen „starken, mächtigen Gott“ verlassen.
Zwei wichtige Erkenntnisse hat ihr Gott in dieser Gnadennacht geschenkt:
1. Sie hat durch diese 10 Jahre pausenloser Niederlagen hindurchgemusst, um schmerzlich zu erkennen und es nie wieder zu vergessen, wie unverändert schwach, klein, ja ohnmächtig sie blieb bei allem Bemühen um Selbstheiligung. Also wird sie auch künftig niemals wieder der Versuchung nachgeben dürfen, aus eigener Kraft und durch eigene Anstrengung ihr Heil zu wirken. Sie weiß jetzt, dass der Mensch lediglich verantwortlich ist für das Bemühen; für.den guten Willen. Aber die Verantwortlichkeit für den Erfolg ruht allein auf Gottes starken Schultern. Er allein kann das Gelingen geben oder auch vorenthalten. Für beides muss man ihm danken und seine Vorsehung preisen. Aus dieser Erfahrung heraus wird Therese später ihre Schwester Celine, die wegen ihrer Misserfolge im Streben jammert, aufmuntern mit der verblüffenden Frage: „Und wenn der liebe Gott Sie schwach und ohnmächtig haben will wie ein Kind? Meinen Sie, dies wäre in seinen Augen weniger wert? Willigen Sie doch ein, bei jedem Schritt zu stolpern, sogar zu fallen, Ihr Kreuz schwächlich zu tragen. Lieben Sie ihre Schwachheit! Ihre Seele wird daraus mehr Nutzen ziehen, als wenn Sie, von der Gnade getragen, mit Begeisterung heldenmütige Taten vollbrächten, die Sie mit persönlicher Befriedigung und mit Hochmut erfüllen würden. Nehmen wir unseren Platz demütig unter den Unvollkommenen ein, halten wir uns für kleine Seelen, die der liebe Gott in jedem Augenblick stützen muss. Sobald er von unserer Kleinheit recht überzeugt ist, reicht er uns die Hand. Solange wir aber noch, und sei es unter dem Vorwand des Eifers, auf eigene Faust große Dinge vollbringen wollen, lässt er uns allein.“
2. Wenn alles die Gnade Gottes macht, dann muss der Mensch auch die ehrgeizige Haltung aufgeben, fehlerfrei sein zu wollen. Er muss darauf verzichten, in den Augen der anderen, aber auch vor sich selber, schön dastehen zu wollen. Wem Gott die Gnade geschenkt hat, sich so zu sehen, wie er wirklich ist, der erkennt und anerkennt endlich seine geschöpflichen Grenzen. Er tritt zurück und lässt die Kraft Gottes an die Stelle der eigenen Kraft treten. Das Verhältnis des Geschöpfes zum Schöpfer wird wieder ins Lot gebracht. Der Mensch wird wieder ein Kind Gottes und gewinnt damit wieder ein Stück Paradies zurück. Denn wer sich bis zum Äußersten selbst aufgibt, erfährt die absolute Geborgenheit in Gott. Ohne diese Erfahrung der eigenen Schwäche, die ebenso grenzenlos ist wie die Größe und Kraft Gottes, kann niemand heilig werden. Jeder Heilige musste diese Erfahrung einmal machen: Normalerweise muss wohl immer Gott uns Menschen erst unsere Ohnmacht beweisen, weil wir alle von Natur aus den Weg des Erfolges gehen möchten. Geltungstrieb und Erfolgsstreben sind die Krankheit unserer Zeit. Die Botschaft Thereses bringt dem Menschen zum Bewusstsein, dass er nicht aus eigener Kraft sein Leben meistern, sein Heil wirken kann, dass ihm aber dafür die unendliche Kraft Gottes zur Verfügung steht. Therese hat also durch die Weihnachtsgnade von Gott eine Botschaft der Hoffnung bekommen, auch für uns, gerade in der Jetztzeit: Der Mensch darf, ja soll seine Schwachheit annehmen, er braucht und er kann auch gar nicht aus eigener Kraft sein Heil wirken.
+ P. Theophan Beierle OCD
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